Vally Weigl: Kurzer Lebenslauf
Sophie Fetthauer

Vally Weigl, geboren am 11. September 1894, entstammte einer aus Nordböhmen und Rumänien eingewanderten jüdischen Bürgerfamilie aus Wien (Vater: Josef Pick, Rechtsanwalt, Mutter: Charlotte Pick, geb. Rubinstein, Schwester: Käthe Leichter, geb. Katherina Marianne Pick). Während für die Generation der Grosseltern die jüdische Religion durchaus noch eine Rolle spielte, gehörten die Eltern Vally Weigls zu den assimilierten liberalen Juden, die die jüdische Religion kaum noch an ihre Kinder weitervermittelten.

Vally Weigl und ihre nur um ein Jahr jüngere Schwester, die spätere Sozialdemokratin und Frauenrechtlerin Käthe Leichter, erhielten eine gute Schulausbildung am Mädchenlyzeum für Beamtentöchter in der Josefstadt sowie privaten Musikunterricht. Obwohl die Eltern eine Berufstätigkeit ihrer Töchter sicher nicht vorgesehen hatten, nahm Käthe Leichter ein Studium der Nationalökonomie auf, das sie mit einer Promotion abschloss. Vally Weigl studierte hingegen 1913 bis 1918 an der Universität Wien Musikwissenschaft (bei Guido Adler) sowie Psychologie, Philosophie und Musikpädagogik, ergänzend nahm sie privaten Unterricht in Klavier, Theorie und Komposition bei Richard Robert, L. Gombrich und Karl Weigl. Da es ihr nach dem Ersten Weltkrieg zunächst nicht gelang, ihren Lebensunterhalt als Musikerin selbständig zu verdienen, und sie infolge des Ersten Weltkriegs auch nicht mehr durch die Familie abgesichert war, ging sie 1920 nach Amsterdam. Mit dem Geld, das sie als Übersetzerin für Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und Holländisch für Edo Fimmen, den Generalsekretär der International Transport Workers Union, verdiente, konnte sie ihre Familie mit Nahrungsmittelpaketen unterstützen und darüber hinaus etwas Geld zurücklegen, auf das sie noch später im Exil zurückgreifen konnte. 1921 kehrte sie nach Wien zurück und heiratete ihren ehemaligen Lehrer Karl Weigl. Sie nahm ihre Tätigkeit als Musiklehrerin und Pianistin wieder auf und trat insbesondere mit ihrem Mann in Duorecitals auf. Ein intensives kompositorisches Schaffen aus dieser Zeit ist nicht belegt. 1926 wurde ihr Sohn Johannes Wolfgang (John) geboren.

Nach dem “Anschluss” Österreichs an das Deutsche Reich galten Vally wie auch Karl Weigl nach den NS-“Rassegesetzen” als jüdisch. Während ihr Mann die angestammte Umgebung nicht verlassen wollte, trieb Vally Weigl die Ausreisevorbereitungen vehement voran. Mit Hilfe der Quäker gelangten die Weigls im Oktober 1938 über die Schweiz und Grossbritannien nach New York. Das Affidavit erlangten sie mit Hilfe von Mrs. Wiley, der Ehefrau des U.S.-amerikanischen Generalkonsuls, und Ira Hirschmann, dem Gründer des New Friends of Music Orchester in New York. Mehrere Mitglieder ihrer eigenen Familie sowie der Karl Weigls überlebten die Verfolgung im “Dritten Reich” nicht. Ihre Mutter beging 1939 Selbstmord, ihre Schwester wurde nach mehreren Jahren Haft 1942 im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück ermordet. Im Exil betonte Vally Weigl, sie sei aus politischen Gründen in die USA geflohen, ihre jüdische Herkunft brachte sie in diesem Zusammenhang nicht zur Sprache. Möglich ist, dass sie, die jegliche Art von Segregation, sei es aufgrund der Abstammung, aber auch des Alters oder des Geschlechts ablehnte, sich auf diese Weise dagegen wehrte, sich noch im Nachhinein von ihren Verfolgern eine Identität (vor allem eine von ihr nicht mehr selbst gelebte und fortgesetzte Identität) aufzwingen zu lassen.

Während ihr Sohn bis zu seinem Schulabschluss bei einer Quäkerfamilie untergebracht wurde und Karl Weigl Lehrtätigkeiten an verschiedenen Einrichtungen in New York, Brooklyn, Boston und Philadelphia aufnahm, arbeitete Vally Weigl als Lehrerin für Musik und Sprachen sowie als Übersetzerin in New York und Pennsylvania (Institute for Avocational Music, American Theatre Wing, Birch Wathen School, Friends’ Westtown School, u.a.). Eine feste Anstellung, von der sie vollständig hätte leben könne, konnte sie nicht finden, ein Zustand, der sich auch in späteren Jahren nicht änderte. Im Exil begann Vally Weigl, ihr kompositorisches Schaffen zu intensivieren, und legte im Laufe der Jahre ein umfangreiches Werk mit Klavier-, Kammermusik- und Vokalkompositionen, die zum Teil auch gedruckt wurden, vor.

Vally Weigl gelang es recht bald, sich an die neue Situation zu gewöhnen, anders als Karl Weigl, der sich, auch nachdem er und Vally Weigl 1943 die U.S.–amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hatten, bis zu seinem Tod 1949 als Fremdling in den USA fühlte. Kurze Zeit nach dem Tod Karl Weigls zog Vally Weigl sich eine Schulterverletzung zu mit der Folge, dass sie zunächst nicht mehr Klavierspielen konnte und damit ihrer beruflichen Grundlage beraubt war. Während der sich anschliessenden Behandlung ihrer Schulter stellte sie fest, dass die therapeutischen Übungen weniger Schmerzen verursachten, wenn sie in Begleitung von Musik ausgeführt wurden. Gerade diese Erfahrung führte sie zu einem ganz neuen Beruf, dem Beruf als Musiktherapeutin. Sie nahm am Teacher’s College der Columbia University ein Studium auf. Mit immerhin schon fast sechzig Jahren wendete sie sich 1953 nach dem Abschluss ihrer Studien einer Berufstätigkeit in Krankenhäusern, Forschungseinrichtungen und Colleges zu (New York Medical College Research Clinic, Mount Sinai Hospital, Roosevelt Cerebral Palsy School, New School for Social Research, u.a.).

Eine Neuorientierung fand für Vally Weigl im Exil auch in politischer Hinsicht statt. Als Mitglied der Gemeinde der Quäker, denen sie ihre geglückte Flucht zu verdanken hatte, gründete sie die Society of Friends’ Arts for World Unity Organization. Viele Jahre war sie Vorsitzende dieser Organisation, führte u.a. mit Kongressabgeordneten eine umfangreiche Korrespondenz und veranstaltete in Kirchen, Synagogen, Kulturzentren und Colleges aller Konfessionen kulturelle Programme mit Konzerten, Theateraufführungen, Lesungen und Ausstellungen. Mit Musik, vor allem auch ihrer eigenen, beabsichtigte sie, Menschen aus den unterschiedlichsten Bereichen zusammenzubringen. Dabei schienen ihr Kunstwerke wohl von dauerhafterer Wirkung zu sein als politische Pamphlete. Es liegt nahe, diese politische Neuorientierung mit dem politischen Engagement und dem tragischen Tod ihrer Schwester Käthe Leichter in Zusammenhang zu bringen. Diese hatte in Wien bis zu ihrer Inhaftierung 1939 als Sozialdemokratin und Frauenrechtlerin gewirkt und die unpolitische Haltung Vally Weigls heftig beklagt. In den Kindheitserinnerungen der beiden Schwestern?Vally Weigls entstanden zwischen 1973 und 1981, Käthe Leichters 1939 während ihrer Haft?wird das gespannte Verhältnis der beiden seit ihrer frühesten Kindheit deutlich. Vally Weigls Kindheitserinnerungen lesen sich dabei wie eine Reaktion auf die 1973 publizierten Erinnerungen ihrer Schwester. Sie bedauerte, das Verhältnis zu ihrer Schwester nie ins Reine gebracht zu haben und erklärte auch ihre heimliche Bewunderung für das früh erwachte soziale Bewusstsein Käthe Leichters.?

Vally Weigl blieb bis ins hohe Alter aktiv. Auch aus ihren letzten Lebensjahren sind noch Kompositionen überliefert, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt ihr Gehör schon fast vollständig verloren hatte. Bis zuletzt beschäftigte sie aber auch der Nachlass ihres Mannes, für den sie sich zeitlebens u.a. mit dem Karl Weigl Memorial Fund eingesetzt hatte. Sie starb am 25. Dezember 1982 mit 88 Jahren in New York.

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Der überwiegende Teil von Vally Weigls Schaffen, insgesamt etwa 190 Kompositionen, entstand in den USA. Für die Jahre vor dem Exil ist nur eine Handvoll von Werken überliefert. Neben Kammermusik sowie Klavierkompositionen (vor allem auch für Kinder) hat sie hauptsächlich weltliche und geistliche Vokalwerke komponiert. Für die Besetzung wählte sie meist kleine gemischt besetzte Instrumentalensembles und erlaubte häufig Alternativ- oder Ad-Libitum-Besetzungen—ein Hinweis auf ihren Versuch, sich an den gegebenen Aufführungsmöglichkeiten zu orientieren. Entsprechend sind grosse Orchesterwerke, Opern oder andere abendfüllende Kompositionen in ihrem Schaffen nicht enthalten.

Die meisten ihrer Werke sind kammermusikalisch-polyphon angelegt. Charakteristische Motive zu Beginn, die im Verlauf eines Stücks immer wieder aufgegriffen werden, sind typisch für ihre Werke ebenso wie die Konzentration auf einen Charakter oder Rhythmus sowie die Vermeidung grösserer Kontraste. Vorbild für ihre Kompositionen war die Musik des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die musikalische Avantgarde im Wien der 1920er und 1930er Jahre ebenso wie in den USA seit den 1940er Jahren blieb ihr fremd. Dabei wurde sie von ihrem Lehrer und späteren Ehemann Karl Weigl geprägt, der selbst Schüler Alexander Zemlinskys gewesen war und in Wien im Kreis um Schönberg verkehrte, aber dennoch die neueren Strömungen der Musik entschieden ablehnte. In der extrem zwischen Traditionellem und Ultraavantgardistischem differenzierten U.S.–amerikanischen Musikszene fand Vally Weigl im Rahmen der Friedensbewegung, der Quäker und der Musiktherapie ihre eigene Nische.

Im Zentrum ihres Schaffens standen Vokalwerke. Ihr Interesse für Vokalmusik, aber auch für Literatur und Sprache allgemein wurde durch verschiedene Personen geweckt. Ihre Mutter schrieb selbst Gedichte, und ihr Mann Karl Weigl beschäftigte sich zentral mit der Komposition von Liederzyklen. Auch gehörte zu ihrer Erziehung sehr früh das Erlernen mehrerer Fremdsprachen. In Amsterdam (1920/21) und später im Exil arbeitete sie immer wieder als Übersetzerin und übernahm auch die Übersetzung von Gedichttexten, die sie selbst oder Karl Weigl ursprünglich in deutscher Sprache in Musik gesetzt hatten. Für ihre eigenen Vertonungen wählte sie häufig Texte von Carl Sandburg sowie von Schriftstellerinnen, mit denen sie zum Teil persönlich bekannt war (Patricia Benton, Frederika Blankner und Denise Levertov). Sie vertonte auch eigene Gedichte sowie Texte von Laienautoren, etwa Teilnehmern aus ihren musiktherapeutischen Kursen.

Viele von Vally Weigls Werken drücken eine starke Naturverbundenheit aus. Daneben sind einige ihrer Werke von ihrem pazifistischen Engagement geprägt, das sie in den USA entwickelte. Das “Requiem for Allison” entstand, nachdem Präsident Nixon die Invasion der U.S.–Armee in Kambodscha angekündigt hatte und darauf am 4. Mai 1970 an der Kent State University in Ohio bei Protesten vier Studenten von der Nationalgarde erschossen und weitere neun verletzt worden waren. Vally Weigl lernte in einer Gedenksendung im Fernsehen für die Opfer der Schiesserei ein Gedicht von Peter Davis kennen. Es handelte von der Studentin Allison Krause, die während der Schiesserei getötet worden war. Sie vertonte das Gedicht von Davies in einem Werk für Mezzosopran und Streichquartett, dem “Requiem for Allison”, das bei Gedenkveranstaltungen in der New Yorker Trinity Church und St. John the Divine aufgeführt wurde. Neben Vertonungen weiterer pazifistischer Gedichttexte hatte für Vally Weigl insbesondere auch ihre politisch motivierte Kammerkantate “The People, Yes!” nach zwanzig Gedichten aus dem gleichnamigen Zyklus von Carl Sandburg Bedeutung. Sie widmete dieses Werk, für das sie mit dem Preis des National Endowment for the Arts ausgezeichnet wurde, Präsident Jimmy Carter.

Neben ihrem kompositorischen Schaffen stand seit den 1950er Jahren die musiktherapeutische Arbeit mit behinderten Kindern und Senioren. Sie war, das zeigen ihre musiktherapeutischen Schriften, eine Pionierin auf diesem Gebiet in den USA und dabei ein Verbindungsglied zu vorangegangenen Entwicklungen in Europa. Die Ergebnisse ihrer Arbeit hat Vally Weigl in verschiedenen Fachzeitschriften (Bulletin of the National Association for Music Therapy, Cerebral Palsy Review, Crippled Child, Finnish Medical Journal, und American Journal of Mental Deficiency) publiziert.

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Die Rezeption der Kompositionen Vally Weigls fand hauptsächlich zu ihren Lebzeiten in den USA statt?insbesondere im Rahmen der Friedensbewegung und der Gemeinde der Quäker, aber auch durch eine breitere Öffentlichkeit. So erhielt sie etwa verschiedene Preise und Auszeichnungen: die Auszeichnung der American Composers Alliance und der Mark Rothko Foundation sowie 1976 den Fellowship Grant des National Endowment for the Arts. Auch wurden ihrer Werke verlegt und auf Schallplatte aufgenommen. Auf längere Sicht haben ihre Werke jedoch keinen Eingang ins internationale Konzertleben gefunden, insbesondere nicht das ihrer Geburtsstadt Wien. Ursache hierfür war wohl der Bruch, den das Exil bedeutete, aber auch der starke Rückbezug ihrer Musik auf ein am ausgehenden 19. Jahrhundert orientierten Musikverständnis und die Ausblendung jeglicher neuerer Musikströmungen mögen Gründe gewesen sein. Im Mai 2001 wurde ihre Musik im Rahmen eines internationalen Symposiums, das u.a. durch den Orpheus Trust veranstaltetet wurde, durch Vorträge und Konzerte der?nur begrenzt anwesenden?Öffentlichkeit ihrer Geburtsstadt Wien bekannt gemacht.

Obwohl eine Pionierin auf dem Gebiet der Musiktherapie in den USA, wurde sie von der Musiktherapie lange nicht wahrgenommen. Auf dem oben erwähnten Symposium wurde auch der Versuch unternommen, ihr musiktherapeutisches Schaffen bekannt zu machen und in den Kontext der Entwicklung der Musiktherapie zu stellen.

 

Ed. note: This article first appeared in MUGI, Musik und Gender im Internet (http://mugi.hfmt-hamburg.de/A_lexartikel/lexartikel.php?id=weig1894 ); the text is reproduced with the kind permission of the author.

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